Anthem, 1983

NTSC, Ton, Farbe


Die Antiphone (anthem auf Englisch) ist in der Religion Israels ein Refrain, den man zwischen den Versen eines Psalms wiederholt.
Das Stück ist auf einen einzigen durchdringenden Schrei gerichtet, auf die Ausbreitung dieses Schreis, den ein elfjähriges kleines Mädchen ausstößt, das sich unter dem Rundbau der Union Railbroad Station in Los Angeles festhält; dieser Urschrei, der nur einige Sekunden lang dauert, wird zeitlich gestreckt, von der Frequenz her verändert, und in den Tiefen durch die Zeitlupe vervielfacht. Dieser klangliche Spasmus ist der unsichtbare Behälter einer gedehnten Zeit und eines gedehnten Raums, eines universellen Atems. Auf dem Video sieht man, daß das Mädchen die Klangquelle ist, doch der Klagelaut geht weit über die von diesem Körper festgelegten Konturen hinaus, dehnt sich, fließt weiter wie eine dunkle Flüssigkeit und vermischt sich während des unaufhaltsamen Herannahens der Nacht mit allen Sirenen, mit allen Schreien der Stadt. Mnestische Bilder, "die sich alle um das Thema der Urangst, der Stofflichkeit und der schädlichen Trennung des Körpers vom Geist drehen" (Bill Viola).
Der Schrei des Kindes verweist in einer dialektischen und heftigen Bewegung auf das Getöse der Stadt, die brennenden Fabrikschornsteine, auf die Operation eines Chirurgen, auf einen lebenden Körper, dem man das Fleisch entfernt, und sein offengelegtes klopfendes Herz zeigt. Dieser Schrei, der die Funktion des Auges übernimmt, fixiert den Körper, trennt ihn vom Bild, und bringt ihn in eine grausame andere Welt, eine Welt des Untergangs.


Stéphanie Moisdon