Orange Sanguine, 1993

PAL, Ton, Farbe


Den drei Videofilmen Orange sanguine, Loup-Loup und I Love Mikey liegt das gleiche Konzept und das gleiche Drehverfahren zugrunde, ohne dass sie ausdrücklich eine Serie bilden würden. Sie stammen von Serge Comte und von Philippe Dorain, finstere Gestalt und geheimnisvolles Double des Ersteren.
Diese drei Filme, in denen Serge Comtes Definition des "safe at home" veranschaulicht wird, wurden in einer heimeligen Atmosphäre mit amateurhaften Mitteln, wie dem Camcorder, gedreht.
Alle drei entstanden auf die gleiche Art und Weise: eine sich praktisch nie ändernde Kameraeinstellung, eine einfache und kurze Inszenierung und die verkleidete Hauptperson vor einem verschwommenen Hintergrund.
Serge Comte erklärt Bernard Joisten bei einem Interview für Purple Prose im Jahre 1995 unmissverständlich seine Absicht: "[Es] sind im allgemeinen Porträtaufnahmen mit minimalen Bewegungen des Gesichts. Ich habe gemerkt , dass ich mit Orange Sanguine [Blutorange] einen Zuschauer entstehen lassen konnte, der sich nicht bemüht, zuzuhören, sondern sich damit begnügt, die Bilder mit einem vagen, unkonzentrierten Blick anzuschauen. Andere dagegen wurden als Mittel zur Erfüllung eines Wunsches oder zur Befriedigung eines Triebes konzipiert. In diesem Fall muss die Person das Video unbedingt haben. Und genau, wie sie plötzlich Lust hat, sich auf dem Balkon zu sonnen oder sich etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank zu holen, legt sie die Kassette ein. Das ist eine Entscheidung, die man zu Hause trifft."1

In Orange sanguine sieht man in Großaufnahme die obere Körperhälfte einer Person. Ihr Gesicht ist mit einem roten Schleier bedeckt. Die Farben sind vorwiegend warm, in Orangetönen gehalten.
Die Stimme der Person wurde elektronisch verändert, wie im Fernsehen, wenn man die Identität von Zeugen geheim halten möchte.
Dieser Film ist wie ein fiktionales Geständnis aufgebaut. Die Hauptperson erzählt den Verlauf einer Kannibalenszene: Sie zerpflückt die Begegnung im einzelnen, den Mechanismus der Verführung und den Übergang zum Kannibalenakt.
Sie erzählt im Detail die Gefühle, die sie bei dieser Handlung hatte und analysiert die Befriedigung des Opfers während seines Vorgehens.

Dieses Geständnis ist weniger ein religiöse Handlung als die Faszination für die Fernsehform der "Talkshow": Die Mischung aus neu geschaffener Intimität und der Suche nach dem Erzählen einer sensationallen Handlung (hier der Kannibalenakt).
Die Überschreitung eines kulturellen Tabus rechtfertigt Serge Comte mit der Begründung des kathartisches Phantasmas.
"Ich denke mir diesen Horror wie ein kleiner Junge aus, der in die Schule kommt und seinen Lehrer im Bett drangsalieren möchte." 2
Die unterschwellige Gewalt, die es bisher nur in Form eines Berichts gibt, wird durch die intime Inszenierung, die auf eine Art von Voyeurismus verweist und die vertrauliche Mitteilung von ihrem schrecklichen oder unmoralischen Aspekt löst, gemindert.
Serge Comte gibt weder ein Urteil ab, noch ist er voreingenommen, nichts scheint unmoralisch: Das Einzige, was man erwartet, ist, den Widerschein des Eindrucksvollen in Reichweite des Verständnisses eines jeden zu sehen.

In den Neunzigerjahren ist das Schaffen einer bestimmten Künstler Generation (wie Joël Bartoloméo, Rebecca Bournigault...) durch diese Faszination für die private, intime Welt gekennzeichnet, eine Welt, die zum einen ein schützender Raum ist, in dem Taten eingestanden werden, und zum andern Schauplatz einer übersteigerten Sentimentalität.

Laetitia Rouiller

1. Interview mit Bernard Joisten, Purple Prose, Ausgabe 9, April 1995.
2. Id.