Four Songs, 1976

NTSC, Ton, Farbe


In diesen vier Liedern treten eine Reihe von Motiven und Themen zu Tage, die typisch für das Schaffen Bill Violas sind: Gesang, Textur, Materialisierung der Erinnerung, Überschreiten scheinbarer Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, eine unbegrenzte Zeit in einen einzigartigen Raum, die Trennung/Verschmelzung von Körper und Geist, zyklisches Auftauchen und Verschwinden, wodurch ein imaginärer, fusionierender Bereich zwischen Geburt und Tod strukturiert wird.


Junkyard Levitation (3'11)
Hier ist der Körper Bill Violas der Kern des Geschehens, der Fixpunkt, das reflexive unbewegliche Zentrum, das von einer winzigen, permanenten Bewegung umgeben wird. Ein übergroßer Magnet außerhalb des Bildfeldes, von dem man manchmal den Schatten auf dem Boden sieht, bringt die mit Eisen übersäte Fläche eines unbebauten Terrains vor einem Eisenbahngleis dazu, sich in die Luft zu erheben. Während der Körper des Mannes in der Waagrechten liegen bleibt, erhebt sich die ihn umgebende Erde in die Luft und drückt somit die innere Bewegung des Körpers und seine spirituelle Energie aus.


Songs of Innocence (9'34)
Songs of Innocence ist ein Lied aus der Kindheit, das aus zwei Teilen besteht. Ein Chor singt auf dem grünen Rasen einer Schule einen Abzählreim. Das Licht, das auf diese "ideale" Szene fällt, wird nach und nach schwächer. Bald ist sie in Dunkel gehüllt. Nachdem die Kinder gegangen sind, bleibt in der Spur ihrer Lebendigkeit nichts weiter als eine Flamme und daneben ein nicht identifizierbarer Gegenstand. In diesem Moment tauchen die Körper des Chors gespenstisch wieder auf, blenden sich als transparente Geister in die Nacht ein, und wiederholen die Kinderszene. Zwischen dem Schweigen und der Finsternis, zwischen Tag und Nacht, erfüllt ein Strauß Orchideen und die Flamme auf dem Boden diesen Raum, der leer ist, wie ein Grab, mit der Erinnerung an einen Verstorben.


Space Between the Teeth (9'10)
Auch dieses Video besteht aus zwei Teilen, zwei unterschiedlichen Räumen, wobei sich ein Übergang vom Bild des sichtbaren Körpers zur Tiefe des Körper vollzieht. Space Between the Teeth basiert auf einer fast mathematischen Strategie der Wahrnehmung. In einem geschlossenen Raum schaut uns der sitzende Bill Viola lange an. Plötzlich schreit er laut auf. Er wiederholt dies mehrmals. Die Kamera geht zurück und entdeckt einen endlos langen Gang. Schließlich hält sie an. Der Mann schreit und jeder dieser in unregelmäßigen Abständen ausgestoßene Schrei ruft einen schnellen und heftigen Ruck der Kamera nach vorne vor, bis sie den dunklen Raum zwischen den Zähnen des Mannes erreicht. Nach jedem Ruck kehrt die Kamera zu einen Punkt zurück, der dem Mann immer näher rückt. Jedesmal, wenn wir diesen Raum zwischen den Zähnen betreten, erscheint ein anderes Bild, auf dem anfangs nichts zu erkennen ist. Je näher man dem Mann kommt, um so versetzter tauchen die Bilder auf. Plötzlich sieht man eine Küche, einen Frühstückstisch. Die Dauer der Aufnahmen der beiden Räume ändert sich bald. Man mißt dem vertrauten Bild der Küche, in die der Mann hineinkommt und wieder hinausgeht, und das Wasser am Wasserhahn aufdreht, größere Bedeutung bei. Im Gang hat die Kamera wieder ihre ursprüngliche distanzierte Stellung eingenommen. Ein letzter Schrei versteinert das Bild zu einem winzigen Polaroidfoto, das ins Meer fällt und von einer Welle davongeschwemmt wird. Dieses Kunstwerk dehnt und rafft den Raum und die Zeit der Wahrnehmung und zieht sich im Intervall eines Schreis zu einem unbeweglichen Bild, einer empfindlichen Platte zusammen, die die Frage der Vorstellung des Reellen und des Augenblicks aufwirft.


Truth Through the Mass Individuation (10'13)
Der Körper des Künstlers selbst ist hier Gegenstand eines Experiments, der Frage nämlich, wie die Zeit, ihr Klangbild und die räumlich-zeitliche Stellung des Menschen in der Welt dargestellt werden kann: ein simpler ferner Lichtpunkt, verloer unendlichen Weite eines Stadions, ein Element der Natur, das sich unter die Steine und Bäume mischt, unendlich klein im Raum oder immens groß zeitlich betrachtet, durch den Widerhall, den seine Gesten oder seine Schreie hervorrufen. Bill Viola ließ sich von den Texten Carl Jungs über die Beziehungen des Individuums zum Kollektiv anregen. Er erfaßt die Energie der Dinge, z.B. eine Spannung oder eine verdeckte Gewalt. Er erweitert jede Bewegung durch das Mittel der Zeitlupe zu einer Vision, die weiter ist, als die unseres täglichen Bewußtseins, und gibt uns durch einfache Gesten und kurze elementare Szenen eine vollkommen subjektive Welt zurück, in der alle Werte, die an die Wahrnehmung des Reellen gebunden sind, ins Wanken geraten.


Stéphanie Moisdon