Site Recite (A Prologue), 1989

NTSC, Ton, Farbe


Man sieht nicht als Unreduzierbares : Knochen, Schädel von Vögeln, von Menschen, Rinden, Kieselsteine, Blätter, Kristalle, zerknitterte Papierbögen, zerbrochene Muscheln... Diese Welt gleicht einer "Kosmologie des Todes", wie sich Gary Hill ausdrückt. Alle diese Überreste, diese Fragmente, wurden nebeneinander gelegt, das Mineralische, das Pflanzliche, das Tierische und das Menschliche befinden sich auf ein und derselben waagrechten Ebene, am Rand den gleichen finsteren Hintergrund, in dem sie umgebenden Dunkel in dem nichts zu erkennen ist, wie ebenso vielen skripturalen Elementen.
Man findet sich in der ursprünglichen Situation wieder, daß ein Stück Rinde, ein Stein, "ein Zeichen gibt" wie ein Buchstabe oder ein Wort. Aus dem generell nebeligen und verschwommenen Bild, wie die Hülle eines Wesens ohne Tiefe, tauchen die Fragmente durch unaufhörliche Variationen der Einstellung, die sich von einem zum anderen Fragment weiterbewegt und mit dem Finger mal auf das eine, mal auf das andere zeigen, mit der schneidenden und unreduzierbaren Schärfe eines Feuersteinsplitters auf. All diese Gegenstände liegen auf einem Tisch. Auf der reinen Waagrechten, auf dem Kreis der Welt, auf dem greifbaren, ersten Grund.
Welche Verbindung besteht also zwischen unserem Bewußtsein und dem Draußen ? Möglicherweise liegt sie Gary Hill zufolge in der Rede. Denn die Einheit von Site Recite (A Prologue) macht ja gerade die Rede aus: ein während des ganzen Videos durchgehend aufgesagter Text, der mit der wohlklingenden Stimme von Lou Hetler gesprochen wird. Dieser Text, der ursprünglich für das Video Crux (1983) geschrieben wurde, ist sicherlich einer jener Texte, die Gary Hill am wenigsten Ruhe gelassen haben. Er nahm ihn schließlich aus Crux heraus, arbeitete ihn um und machte 1989 Site Recite (A Prologue) daraus. Den Text kann man nicht erfassen. Die Wörter öffnen den Raum und das Bild, auf das sie sich stürzen. Die Wechselwirkung zwischen der Bedeutung der Wörter und dem durchdringenden Blick ist überwältigend und verbindet das Sichtbare mit dem Lesbaren.
A Prologue
: der Untertitel hat mehrere Bedeutungen. Er weist auf die Welt vor dem Logos hin, auf die Suche Gary Hills nach dem Ursprung der Bedeutung. Das Schlußbild von Site Recite bleibt also ein Rätsel. Diese Aufnahme zeigt von einen "unmöglichen" Gesichtspunkt aus den Mund, aus dem die Worte kommen, die wir von Anfang an hören. Dieses Bild zersprengt vor unseren Augen den Mythos der Verinnerlichung. Site Recite (A Prologue) ist ein Prolog auch insofern, als dieses Video als eine der Wege betrachtet werden kann (unter einer Vielzahl weiterer geplanter), mit dem das nachfolgende Projekt Gary Hills, die interaktive Videodisc Which Tree entdeckt werden konnte (zentrales Werk im Schaffen des Künstlers, das der Metapher des Gehirns als elektronischer Schaltkreis seine ganze Bedeutung geben wird).

Paul-Emmanuel Odin