Solstice d'Hiver, 1990
PAL, Ton, Farbe
Solstice d'hiver gehört zu Philippe Gandrieux' Serie Live, die vom französischen Fernsehsender "La Sept" produziert wurde. Eine Bedingung wurde gestellt: "Alleine mit einem Video 8-Film eine einzige sechzigminütige Sequenz ohne Unterbrechung und ohne Schnitt drehen." Die Sequenz als eine einzige Aufnahme unterscheidet sich gänzlich von der Fragmentierung und dem Aufbau einer Beziehung zwischen dem Rhythmus der gesprochenen Sprache bzw. der Musik und der Abfolge von Sequenzen, mit der Gary Hill gewöhnlich arbeitet. In Solstice d'hiver wird nicht nur die Beziehung zur Zeit neu definiert, sondern auch die Beziehung zum Raum. Die Reduzierung des Raums auf das Objekt in der Fragmentierung macht den Grenzen der Wohnung Platz. Es gibt einen Versuch, dem zeitlichen Zwang auszuweichen, zum einen durch eine erzählerische Dimension mit dem eingegebenen Gedanken der Einsamkeit eines Wintertages in einer Wohnung, und zum anderen in einer weiter gefaßten Dimension, durch den durch den Titel hergestellten Bezug zum Sonnensystem. Die dreißig ersten Minuten sind ein Experiment über die Dauer mittels einer übertrieben langsamen Kamerafahrt und extrem langsamen Gesten: die Drehbewegung der Kamera im Wohnzimmer dauert eine halbe Stunde. Der Betrachter sieht ein Panorama auf harmlose Gegenstände einer westlichen Wohnungseinrichtung. Der Künstler tritt auf. Wir sehen nur seinen Oberkörper. Er braucht fünfzehn Minuten, um eine Schallplatte zu nehmen, sie aus der Hülle herausziehen, sie auf den Plattenspieler zu legen, diesen anzustellen und schließlich wieder aus dem Bild zu verschwinden. Die Kamera zoomt mehrmals hintereinander nach vorne und nach hinten. Durch die Fenster sieht man die verschneite Stadtlandschaft und die Grenze zwischen drinnen und draußen.
Der Ton ist an den Raum gebunden. Der Künstler spricht, ohne verständlich zu sein, vor die Hi-fi-Anlage. Bei der Sequenz mit dem Fenster hört man die Off-Stimme der Schallplatte, wodurch der Effekt räumlicher Distanz geschaffen wird. Am Ende der Drehbewegung wird der Ton elektronisch und eher musikalisch als durchdringend.
Der Künstler geht aus dem Raum hinaus. Das Geräusch läßt darauf schließen, daß er eine Dusche nimmt. Er kommt nackt wieder in das Wohnzimmer. Die Kamera folgt ihm in die Küche, wo er flüchtig aufräumt. Danach macht er die Türen zu. Im Zimmer bleibt die Kamera vor dem Bett stehen. Diese Ruhestätte wird für den Künstler zu einem Ort der Agitation. Er wirft erst Bücher und dann Kleider auf das Bett. Die Bildfolge mit den Büchern bietet einen kulturellen Ausblick. Die Titel, die er liest ("Innocent present" usw.), werden von einigen Kritiken unterbrochen. So als wären alle diese philosophischen Fragen und Antworten dringend und altmodisch oder wenig zufriedenstellend zugleich.
Die Drehbewegung im Video von Gary Hill ist an die Dauer, den Zyklus und die Vollendung einer Handlung - in Full Circle ist der graphische kreisförmige Verlauf das Pendant zum Hantieren mit einem Metalldraht - oder an die Phasen eines Berichtes gebunden - in Processual Video beschreibt eine Zeile auf einem Bildschirm einen solchen Zyklus. In Solstice d'hiver erzählt das Bild vergleichsweise selbst die Handlung und stellt den abstrakten Begriff der Zeit dar. Die Worte sind zunächst zweitrangig (der Künstler spricht zu sich selbst, die Stimme ist das Kennzeichen für räumliche Distanz), doch später verwandelt sich das Gelesene und Gesprochene in theoretische Aussagen und kurze Kritiken, die wenig zum Bild beitragen.
So als wolle er sich selbst möglichst im Hintergrund halten, zeigt der Künstler seinen Körper nie vollständig. Seine gelegentliche Nacktheit ist in Verbindung mit dem Register der Intimität dieses Familienvideos zu sehen (home movie).
Thérèse Beyler