Nostos I, 1979
PAL, stumm, Farbe
Der Videofilm beginnt mit einem blauen Bildschirm. Schüchterne bläuliche Flecke tauchen auf und verschwinden wieder. Ein Kommen und Gehen. Die Volltonflächen scheinen durch einen Körper hindurchzuströmen. Langsam zeichnet sich ein Gesicht ab. Der Kontrast zwischen Hintergrund und Form führt zu einem ewiglichen Hin und Her, solange, bis die beiden Elemente aufeinandertreffen und verschwinden. Eine andere Figur versucht, sich durch das zerlegte Bild einen Weg zu bahnen. Zwei Gestalten treffen aufeinander, verstecken sich und verschmelzen schließlich miteinander. Der Hintergrund spielt verrückt. Alles kommt wieder, in einer unendlichen Wiederholung. Die erste Gestalt, das Gesicht, die Leserin, die erste Gestalt... alles bewegt sich immer schneller, dreht durch, blinkt nervös auf und beruhigt sich wieder. In den Analysen seines Films schrieb Kuntzel, daß die ersten Eindrücke eines Films in der Wiederkehr aufgegriffen werden, daß sich der Film wiederholt. Nostos besteht aus diesen wiederkehrenden Motiven. Er schrieb außerdem, daß der Zuschauer das weiß, gleichzeitig aber an das Entstehen von etwas Neuem glaubt. Dieses Neue reduziert sich in Nostos auf einige wenige Handlungen. Ein extrem mageres und unsicheres Bild im Gegensatz zu einem Kino- oder Fernsehfilm. Ein Bild, das aus einem Bildsynthesizer stammt. Anklänge an eine Erzählung gibt es wohl: eine Gestalt, die vor einem Fenster raucht, eine Silhouette, die läuft und einer anderen begegnet. Abgebrochene Erzählungen, die der Künstler für sein Vorhaben braucht. Gerade so viel, um nicht abstrakt zu werden. Thierry Kuntzel erklärt das wie folgt: "In gewisser Weise hasse ich die Darstellung, doch alles dreht sich um dieses sich Abscheu-Abstoßen und die Faszination der Darstellung... Denn ich bewege mich immer in einem Zwischenraum... Ich glaube, ich könnte nicht mit einem abstrakten Bild arbeiten, ich muß immer an die Grenze der Darstellung kommen, und zwar immer, um "borderline" - an der Grenze - zu bleiben; den Moment zu halten, in dem die Darstellung vielleicht verschwindet..."1
Das Licht ist das enthüllende Element des Videofilms. Es huscht vorbei, fixiert jedoch nichts.
Genauso, wie sich keine Figur richtig abzeichnet, sondern nur deshalb da ist, um in einem komplexen Durcheinander die folgende Figur einzuleiten. Eine winzige Veränderung, bei der immer das Gleiche wiederzukehren scheint. Der Name des Kunstwerks (Nostos, Wiederkehr) drückt diesen Zustand aus. Thierry Kuntzel schreibt: "Etymologisch betrachtet ist "Nostalgie" der Schmerz der Wiederkehr. "Nostos" ist die schmerzlose Wiederkehr [...]" Jedoch verschwindet der Schmerz nicht vollkommen, sondern auftaucht in einer vielleicht positiveren Form : in Form von Melancholie." Trotz dieser Wiederkehr passiert etwas. So sagte er in einem Interview: "Die Videobänder und die Installationen sind auf der Suche nach einer bestimmten Funktionsweise der Psyche, nicht nur nach meiner, sondern nach der des Zuschauers, nach seinem Gedächtnis, dem, was er vergißt, nach seiner Sensibilität dem Spiel der Wiederholungen und der Variationen gegenüber. Diese Funktionsweise hat mit ihrer extremen Langsamkeit und Aufmerksamkeit sicher etwas mit bestimmten melancholischen Zuständen zu tun."2
Etymologisch kommt "Video" aus dem Lateinischen video: ich sehe. Und was sieht man in dem Video von Thierry Kuntzel? Nichts als Übergänge. Der Eindruck des Fließenden ergibt sich aus der zeitlichen Erforschung im Video. Die Zeit scheint aus einer Vielzahl an Augenblicken zu bestehen und ein Augenblick ist in Nostos nichts. Das Festhalten eines Bildes ist unmöglich, denn Nostos ist ja gerade die Verweigerung des Starren, der Starrheit des Bildes. Jean-Paul Simon hat Nostos mit einem Flip-Book verglichen, wo das Verständnis der Bewegung an die geordnete Abfolge der Seiten und an die Eindrücke, die sie in unserem Gedächtnis hinterlassen, gebunden ist, damit sich jede Seite über die vorangehende schiebt. All diese Motive, die in Vollflächen dargestellt werden, laufen auf dem Bildschirm und scheinen sich aufeinander abzusetzen. Sie werden zu einer "Gedächtnismenge" ("Volume de mémoire", T. Kuntzel). Bildzerlegungen/Ausblendungen, die elektronischen Spuren dringen direkt in dieses Gedächtnis ein und bilden ein wahres Palimsest, eine Übereinanderschichtung von Spuren, Formen, Farben, Intensitäten. Viele Atemzüge, die ein einziges Leben erzeugen: die Endkonkretion. Der völlig mentale Support von Nostos I gleicht einem musikalischen Werk, wo die Noten die Codierung des Werks sind, das erst dann zu existieren beginnt, wenn sie im geistigen Raum der Zuhörer gespielt werden. Das Werk analysiert nicht die Darstellung, sondern die Tatsache, daß es eine Darstellung gibt. Zwischen Wahrnehmung, innerem Bild und Begriff vollzieht sich die Arbeit im psychischen System, einem reellen Ort der Wandlung, während auf dem Bildschirm die Voraussetzung für das Auftauchen der Dinge von Nostos sichtbar wird: deren Verschwinden nämlich.
Dominique Garrigues
1 Thierry Kuntzel im Video von Stefaan Decostere: Il y a une cassette vidéo dasn la soupe (In der Suppe liegt eine Videokassette) (1983,63'), BRT, Brüssel.
2 Liliana Albertazzi, "Prendre le temps" (sich die Zeit nehmen") (Interview) Presseart. Nummer 131, 1988, S. 30