Nostos II, 1984

9 Monitore, 9 Videodiscs, PAL, Ton, schwarzweiss, 1 synchroniser


Nostos II ist eine Installation aus neun monochromen Bildschirmen, die in ihren Abmessungen einer Kinoleinwand ähnelt. Die neun Bildschirme sind mit jeweils einem Videorecorder verbunden, die alle ein anderes Band abspielen. Es erscheinen flüchtige Bilder, die mit einer "Paluche" aufgenommen worden sind, einer kleinen und absichtlich schlecht eingestellten Handkamera (Aaton 30). Diese Kamera ähnelt einer Taschenlampe und zeichnet sich durch eine hohe Lichtempfindlichkeit und eine besondere Handlichkeit aus. Mit der "Paluche" bleibt der Blick nicht hinter der Kamera blockiert, gefilmt wird von der Hand. Die Ausdruckskraft der Bilder wird vergleichbar mit der Ausdruckskraft von Gesten und bringt das Blickfeld ziemlich durcheinander. Diese Fehlfunktion der Kamera - ausgelöst durch eine Manipulation mit dem Elektronenstrahl und der Blende - bewirkt milchige Spuren. Thierry Kuntzel notiert : "Die Bewegung des gefilmten Objekts oder der Kamera läßt die Ähnlichkeit zusammenbrechen [...], der entgegengesetzte Stabilisierungsprozeß bewirkt den Eindruck einer Figur, die aus dem Unförmigen heraus entsteht." 1 Das Werk produziert ein heftiges Licht, in dem kontinuierlich bleibende Blitze entstehen. Die Wiedergabe bietet keine Perspektive, aber eine Dichte, wo sich die Lichtblitze auf der gesamten Oberfläche entsprechend präzisen Orientierungen organisieren, von der Schräge über das Sternenmotiv bis zur Symmetrie. Das ganze hat einen Rhythmus, der sich im Crescendo weiterbewegt, von der Langsamkeit zur Beschleunigung. Auf griechisch bedeutet nostos Rückkehr. Zwischen den Bildschirmen kommt es immer mehr zu Wiederholungen, von gleich zu beinahe identisch. In der Abschlußszene taucht die Stimme von Joan Fontaine aus Letter from Unknow Woman von Max Ophuls auf und beendet das Bild. Seit seinen Neon-Installationen von 1976-1977 bearbeitet Thierry Kuntzel das Licht wie ein Rohmaterial. Ein Licht, das erleuchtet, brennt, blendet; ein Licht, das sich ins Bild setzt: Streichholz, Taschenlampe, Kaminfeuer. Vom Delikaten zum Schlimmsten, im Licht steckt Drama. Es läßt das Werk schwanken zwischen Stillstand und Bewegung, immer an der Grenze zur Abstraktion. Thierry Kuntzel zitiert gern den Satz von Henri Michaux : "Das kleine Häufchen Farbstoff, das sich in unendlich kleine Partikel auflöst, diese Übergänge und nicht das Endergebnis des Bildes sind die Dinge, die ich liebe." Der Fluß von Nostos II artikuliert sich um vier Kapitel herum, die mit Schwarz verschmelzen: Ein Unbekannter, der raucht, Fotografien, die sich stapeln, die Seiten eines Buches, der Brief im Kamin. Das zentrale Element dieser Minimal-Aktionen bleibt die Zeit. Das erneute Auftauchen und die Wiederaufnahme dieser Bewegungen relativieren die Tragweite dieser Szenen, um sie der nicht linearen Komplexität der Bilderwand gegenüberzustellen. "Die Montage der neun Bänder ist somit der geduldige Vorgang [...] über den sich die Aufsplitterung der geistigen Zeit im Raum festsetzt", schreibt Raymond Bellour. Die verbleibenden Lichtreste sind ein Beharren der Netzhaut, die von fern aus einer flackernden Erinnerung stammen, eine vage Reminiszenz an die Spuren an der Bildschirmoberfläche und die Tiefe der Erinnerung. Die neun Monitoren dienen als Metapher eines "Bildschirms der Erinnerung", wo jede der Einheiten einen unbewußten Teil bildet, in dem die Inschrift flüchtig bleibt. Die Installation ist ganz wie ein Kinosaal in völlige Dunkelheit getaucht, was die vielen Explosionen noch zu verstärken scheint, aber die Montage spielt sich ebenso zeitlich ab, wie räumlich, über die Verbindung der neun Bildschirme. Das Werk muß nicht einfach nur durchlaufen werden, es hat eine festgelegte Dauer. In diesem elektronischen Panorama geht der Blick des Zuschauers von einem Bildschirm zum nächsten, und konstruiert dabei seinen eigenen Parcours. Ganz nebenbei wird die Idee von der Zusammenfügung und der filmtechnischen Linearität gekippt. Nostos II gehört zu einer seit 1979 geplanten Trilogie: Nostos I (1979) Aperçus-passages (Einblicke-Übergänge); Nostos II (1984) Rémanences-fluides (Bleibendes-Fließendes); Nostos III (1995) Poudres-Gels (Pulver-Gele).


Dominique Garrigues


1 Thierry Kuntzel, "Trois fois trois", Ausstellungskatalog Nostos II, Musée National d'Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris, 1984.